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Laugwitz , Die Messung von Kontingenzwinkéin
Linie und des Bogens läßt sich keine weitere gerade Linie nebenhineinziehen; der Winkel des Halbkreises ist größer als jeder spitze geradlinige Winkel, der Restwinkel kleiner."
Die wenigen Worte nach dem Semikolon, in denen vom Größenvergleich auch bei Winkeln mit krummlinigen Schenkeln die Rede ist, haben nach dem Parallelenaxiom sicherlich mehr Folgen gehabt als irgendeine andere Passage bei Euklid. In der Antike schon waren die krummlinigen Winkel als warnendes Beispiel Anlaß für die keit bei der Behandlung von Stetigkeitsfragen. Das zeigt sich bei Euklid in der portionenlehre des Buches V. Fälschlich bezeichnet man die Definition V. 4 oft als Axiom, manchmal auch als Postulat (die Benennung nach Archimedes oder richtiger Eudoxos ist üblich) :
Definition V. 4. „Daß sie ein Verhältnis zueinander haben, sagt man von Größen, die vervielfältigt einander übertreffen können." Das wird insofern nicht als Axiom der euklidischen Geometrie verwendet, als die mathematische Existenz nichtarchimedischer Größen nicht ausgeschlossen wird; Buch V beschränkt sich vorsichtshalber nur auf eine Proportionenlehre für Größen, die ,,vervielfältigt einander übertreffen können." Über andere Größen wird dort nichts ausgesagt. Bereits in alten Kommentaren wird angemerkt, daß Euklid lediglich eine Anordnung der Winkel behandelt, nicht, wie sonst bei Größen üblich, eine Quantität gebraucht (z. В.: Wann wäre ein krummliniger Winkel doppelt so groß wie ein anderer?). Proklos verwendet die Bezeichnung ,,hornförmiger Winkel"; ,,angulus contigencie" sagt Jordanus Nemorarius im 13. Jahrhundert. Johannes Gam- panus weist in seiner wenig später angefertigten Euklid-Ausgabe ausdrücklich auf die Ungleichartigkeit von Kontingenzwinkéin und geradlinigen Winkeln hin und spricht von stetigen Größen, bei denen in unserem heutigen Sinne Zwischenwertbetrachtungen lich sind ; die Gesamtheit aller Winkel (inklusive der Kontingenzwinkel) erlaubt nicht alle bei den geradlinigen Winkeln möglichen Stetigkeitsüberlegungen. Überhaupt tritt in der Scholastik im Zusammenhang mit Auseinandersetzungen über Aristoteles' Bemerkungen über das Kontinuum das Kontingenzwinkelproblem häufig auf; vor allem zu nennen ist Thomas Bradwardinus (1. Hälfte des 14. Jahrhunderts; ,,Tractatus de continuo"). Um 1570 spricht Cardano vom „angulus contactus", und bis ins 17. Jahrhundert gibt es einen erbitterten Streit zwischen zwei Parteien: Die eine, von Candale und Clavius angeführt, behauptet, die Kontingenzwinkel seien von anderer Natur als die geradlinigen Winkel, seien aber durchaus Größen. Die zweite Partei vertrat vor allem Peletier, nach dem der Kontingenzwinkel gleich dem Unterschied zweier genau gleichen Größen sei, mithin gleich Null. Noch Wallis hat diese letztere Meinung mehrfach vertreten, auch Leibniz widmet ihr einen Artikel. Auch in der Zeit der mehr pragmatischen Anwendung des culus im 18. Jahrhundert gerät die Frage nicht in Vergessenheit. G. S. Klügel widmet in seinem Mathematischen Wörterbuch von 1803 dem Stichwort ,,Berührungswinkel" mehr als fünf Seiten, wobei er auch Winkel zwischen nicht kreisförmigen Kurven untersucht und die Argumentationen beider Parteien würdigt. Dabei wird immer noch lediglich die Größer-Relation betrachtet, nicht aber z. B. die Addition von gemischtlinigen Winkeln. F. Klein stellt Kurven durch analytische Funktionen in der ж, y-Ebene dar,
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und verwendet sie als Beispiel eines nichtarchimedischen Systems, wobei er allerdings nur auf die Multiplikation dieser Winkel mit natürlichen Zahlen eingeht, nicht auf ihre Addition. —
Literaturhinweise zu diesen historischen Bemerkungen stellen wir am Ende sammen.