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Der axiomatische Aufbau der Mengenlehre.
stehen : entweder könnte man der Ansicht sein, daß eine Entscheidung jener Frage ihrer Natur nach über die Möglichkeiten der menschlichen Vernunft hinausgehe, oder die Meinung vertreten, daß nur unser heriger Begriff von der natürlichen Zahl nicht hinreiche, d. h. daß das Axiomensystem der Theorie der natürlichen Zahlen (Fußnote auf S. 360) nicht vollständig genug sei, um die Entscheidung jeder auf liche Zahlen bezüglichen Frage zu ermöglichen. In diesem Falle wäre die Hinzufügung weiterer (uns freilich kaum vorstellbarer) Axiome erforderlich, an denen sich zunächst etwa die Zahlenlehre in ähnlicher Weise zu verschiedenen möglichen Typen „gabeln" könnte, wie die Geometrie am Parallelenaxiom. Es könnte z. B. der Fermât sehe Satz als ein derartiges Axiom in Frage kommen. Am Beispiel des Kontinuum- problems und anderer Fragen leuchtet ein, daß für die Mengenlehre eine Prüfung der Vollständigkeit unseres Axiomensystems in diesem Sinn noch weit größeren Schwierigkeiten begegnen würde und daß die zweite Möglichkeit hier in der Tat ernstlich ins Auge zu fassen wäre.
Eng verwandt mit dieser Auffassung der Vollständigkeit, aber lange nicht so weitgehend und eher einer Prüfung unterziehbar gestaltet sich die Vollständigkeit eines Axiomensystems, wenn wir sie in einem Sinn verstehen, der zunächst am Beispiel der Geometrie geschildert sei. Die Aussage des Parallelenaxioms läßt sich zwar aus den übrigen geometrischen Axiomen nicht herleiten, doch ist sie verträglich mit ihnen. Aus dieser Verträglichkeit aber folgt keineswegs, daß artige Annahmen — solche nämlich, die dem Parallelenaxiom sprechen — nicht ebensogut mit den übrigen Axiomen verträglich wären; vielmehr wird auch diese Verträglichkeit durch die euklidischen Geometrien gewährleistet. Kurz: mehrere einander sprechende Aussagen, die natürlich niemals beweisbare Folgen eines und desselben Axiomensystems sind, können dennoch jede für sich mit dem System vereinbar sein; ein solches Axiomensystem läßt nicht bloß im Sinn der Deduzierbarkeit mit den gegenwärtigen oder künftigen Hilfsmitteln der Mathematik, sondern in einem absoluten Sinn ( stellbar durch Unabhängigkeitsbeweise) die Frage offen, ob gewisse einschlägige Fragen so oder so zu beantworten sind. Ein derartiges Axiomensystem wird mit Fug und Recht als unvollständig zu zeichnen sein. Mit mehr Aussicht auf tatsächliche Klärung, als es bei der Auffassung des vorigen Absatzes der Fall war, wird man das Problem der Vollständigkeit also folgendermaßen stellen können: 31 sei eine in das Axiomensystem einschlägige Aussage ; gleichviel ob es gelingen mag, die Richtigkeit oder Falschheit von 21 aus dem System zu zieren oder eine solche Deduzierbarkeit auch nur theoretisch zustellen, so soll jedenfalls nur entweder die Richtigkeit oder die heit von 9t — nicht aber jede dieser beiden Möglichkeiten — mit dem Axiomensystem vereinbar sein, wenn dieses als ,,vollständig*' gelten